Matthäus 9, 9 Und als
Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß
Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.
10 Und
es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und
Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. 11 Als das die
Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit
den Zöllnern und Sündern? 12 Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken
bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.
13 Geht
aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): »Ich habe Wohlgefallen an
Barmherzigkeit und nicht am Opfer.« Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und
nicht die Gerechten.
Liebe
Gemeinde,
warum steht
der Zöllner Matthäus auf und folgt Jesus? So mir nichts dir nichts, wie wir im
Volksmund sagen. Man wirft doch nicht so einfach die Brocken hin!
Wir
erfahren nichts über die Beweggründe des Zöllners. Der Evangelist berichtet nur
knapp und faktisch. Aber wir dürfen sicher sein: Auch damals – zur Zeit Jesu –
… haben Menschen nicht unüberlegt gehandelt. Ich vermute, dass der Zollpächter
Matthäus gemerkt hat, dass Jesus ihm etwas bieten konnte, eine Perspektive
fürs Leben, die Matthäus schon lange erhofft und gesucht hatte.
Verstehen
wir zunächst kurz die Situation damals und kommen dann zu unserer Lebenswelt
heute. Matthäus' Leben war vielleicht materiell abgesichert. Aber nicht jeder
Zollpächter war reich. Es ist auch denkbar, dass er nur so gerade über die
Runden kam. Ein Zöllner pachtete von der Besatzungsmacht seine Zollstation,
also von den Römern. Er durfte dann seine Zollgebühr für Waren erheben, die in
seinen Zollbezirk eingeführt oder ausgeführt wurden oder die seinen Bezirk auf
der Durchreise passierten. Er hatte dann einen festen Anteil seiner Gebühren an
die Römer zu entrichten. Nur der Rest war sein eigener Gewinn.
Jeder
Zöllner musste damals in Palästina damit leben, dass ihn die jüdische Bevölkerung
verachtete, weil er ein Profiteur am System war. Er profitierte von der
Unterdrückungsherrschaft der heidnischen römischen Besatzer. Im Grunde
beurteilte man die Zöllner als Feinde; als Feinde der jüdischen Religion und
der jüdischen Nation.
Wir können
uns vorstellen mit diesem Hintergrundwissen über Zollpächter im römischen
Palästina, dass der Zöllner Matthäus nicht ohne Grund seine Zollstation
aufgegeben hat und Jesus folgte. Wenn Jesus ihn ansprach, weil er in ihm keinen
Feind sah, und wenn er ihn sogar aufforderte, ein Mitglied seiner
Nachfolgegemeinschaft, seiner Jüngerschaft, zu werden, dann hieß das für
Matthäus: Jesus warf ihm nicht vor, Zöllner geworden zu sein. Matthäus wird
begriffen haben: In Jesus begegnete ihm ein Jude, der verstand, in welcher
Zwickmühle er sich befand, nämlich einerseits Geld verdienen zu müssen und
andererseits etwas zu tun, was nicht koscher war und was ihn selbst, Matthäus,
vermutlich bedrückte in seinem Gewissen. Jesus wird erkannt haben, dass
Matthäus als Zöllner von früh bis spät Dinge tat, die für ihn persönlich keinen
Sinn ergaben … außer dass er Geld verdiente. Jesus bot ihm die Chance, eine
neue Lebensperspektive aufzugreifen.
So viel zum
Zöllner Matthäus, liebe Gemeinde.
Nun zu uns.
Könnten wir uns mit ihm identifizieren? Uns selbst in gewisser Weise als
Zöllner verstehen? Natürlich nur symbolisch! Denn wir leben ja in einer anderen
geschichtlichen Situation. Wir müssen uns mit keiner Fremdherrschaft
arrangieren. Aber wir haben auch wie Matthäus einmal eine berufliche Laufbahn
eingeschlagen und sind in ihr bestimmten Zwängen ausgesetzt. Oder sofern Sie
bereits Rentner sind, können Sie zurückschauen auf die Umstände Ihrer Arbeit
und was man von Ihnen vor einigen Jahren erwartete. Vielleicht gab, vielleicht
gibt es in unseren Berufen eine Menge Erwartungen, dass wir Aufgaben erledigen
sollen, die wir gar nicht tun möchten. Aber wir erledigen diese Aufgaben, weil
wir Geld verdienen wollen. Oder wir tun Dinge, die wir sterbenslangweilig
finden. Oder wir erleben, dass wir stundenlang fleißig sind, aber unsere
Tätigkeit steht gar nicht mit unserem Leben in Verbindung oder nährt nicht
unsere seelischen Bedürfnisse. Vielleicht ahnen wir, dass es – zumindest
punktuell - eine Fremdherrschaft zu geben scheint, obwohl wir in einem freien
Land leben. Die Überfremdung könnte sein, dass unsere Zielvorgaben im Beruf
sind, dass wir lediglich mehr schaffen und mehr Gewinn erzielen müssen, ohne
darauf schauen zu dürfen, ob wir jemandem damit helfen oder schaden. Denken Sie
beispielsweise an die Verkaufsgespräche bei Banken und Versicherungen, als
unseriöse Wertanlagen verkauft wurden. Aber es gibt auch viel unspektakulärere
Anforderungen an Arbeitnehmer, die losgelöst sind von dem Ziel, jemandem zu
helfen. Ein Klempner soll Kunden von der Anschaffung einer teuren Mischbatterie
überzeugen oder ein Beamter in einer kommunalen Verwaltung soll zwar legale,
aber überholte Verwaltungsrichtlinien gegenüber Bürgern durchsetzen. Solche
Überfremdungen sind keine Erfindungen, sondern Wirklichkeit im Berufsalltag
unserer Gesellschaft.
Mit unserer
Predigtgeschichte dürfen wir sagen: Jesus lädt z.B. den Bankangestellten, lädt
den Klempner, lädt den Beamten an seinen Tisch. Er fragt nicht nach moralischer
Eignung. Er klopft uns nicht darauf ab, ob wir eine saubere Weste haben oder
nicht. Gemeint ist, ob die Weste unter unserer bürgerlichen Anständigkeit auch
wirklich sauber ist. Seine Rede lautet nicht: Du müsstest oder solltest
eigentlich vorher noch …! Sondern Jesus weiß, dass wir Erdenbürger unser Leben
nur neu ordnen können, wenn wir Verständnis erfahren; ... Verständnis erfahren
für die Hintergründe, aus denen heraus wir geworden sind, wie wir sind. Es ist
eine grenzenlose Güte, die Jesus an den Tag legte. Im Auftrag Gottes. Es ist
ein barmherziges Verständnis, das der Christus heute noch aufbringt. Im Namen
Gottes. Christus ist Partner für Menschen, deren Leben hinter der bürgerlichen
Fassade keine perfekte Bilanz aufweist oder die nicht stark genug sind, ihre
Überheblichkeit selbst zu wandeln.
Warum ist
Christus dieser Partner, dieser Anwalt göttlich grenzenloser Güte? Jesus würde
heute noch auf diese Frage antworten: „Die Starken bedürfen des Arztes
nicht, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die
Gerechten.“
Diese
freundliche Ausrichtung auf Menschen, deren Leben aus unterschiedlichen Gründen
zum Teil oder ganz aus dem Ruder läuft, … diese Ausrichtung Jesu hat
provoziert; hat Pharisäer verärgert. Sie provoziert auch heute noch. Denken Sie
etwa an Dieter Hoeness, der Millionen von Euro an deutschen Finanzämtern vorbei
eingesackt hat, oder nehmen Sie das Beispiel mit den Bankangestellten, die
unseriöse Wertpapiere verkauft haben: Stellen Sie sich vor, die säßen bei Jesus
am Tisch oder gingen bei ihm ein und aus. Oder sie würden bei unserem Bischof
zu einem Empfang eingeladen. Dann würde es laute und massive Proteste hageln.
Gegen diese
Proteste spricht Gottes bedingungslose Güte. Paulus schreibt im Römerbrief,
Kapitel 2 (ich
lese die Gute-Nachricht-Übersetzung): Seht ihr nicht, dass Gott euch durch
seine Güte zur Umkehr bewegen will? (V. 4) Gott sagt bedingungslos Ja zu
uns Menschen, aber er lässt uns nicht so, wie wir sind. Er schenkt uns eine
andere Lebensperspektive. Es ist eine andere innere Formatierung durch den
Heiligen Geist, eine wachsende Christusähnlichkeit, eine Hingabebereitschaft,
eine achtsame Barmherzigkeit.
Ich bin
immer wieder erstaunt über diese andere Formatierung im Heiligen Geist. Ich
nehme oft wahr, wie dienstbereit Christen im Beruf sind: mitfühlend, helfend,
manchmal auch – wenn es Not tut - widersprechend, dem Rad in die Speichen
greifend. Ich möchte Ihnen ein beeindruckendes Verhalten von achtsamer
Barmherzigkeit erzählen, das mir ein Diakonenkollege aus Niedersachsen
berichtete. Es geht um einen Beamten im mittleren Dienst eines Bauamtes. Näher
darf ich Behörde und Örtlichkeit nicht beschreiben, damit die handelnden
Personen anonym bleiben können. Alles ist exakt so passiert, wie ich es jetzt
gleich schildere. Bitte achten Sie auch auf krasse Verhaltensweisen, die
scheinbar normale Gewohnheiten darstellen.
Der Beamte
ist Kirchenvorsteher in der Gemeinde meines Diakonenkollegen. Ich nenne ihn für
unseren Zweck heute Morgen Herrn Bierhaber. Er bearbeitet im Bauwesen ein
bestimmtes Sachgebiet. Er sitzt allein in seinem Büro wie auch seine Kollegin
Haase, von der im Weiteren die Rede sein wird. Alle Namen sind in diesem
Bericht verändert.
In das Büro
von Herrn Bierhaber tritt eine Frau, die außer sich ist und nach dem Namen des
Amtsleiters fragt. Sie weint und wirkt fahrig. Entschuldigt sich. Herr
Bierhaber fragt, ob er helfen könne. Der Amtsleiter sei für zwei Tage auf einer
Fortbildung für alle leitenden Beamten Niedersachsens. Die Frau bringt
aufgeregt den Satz hervor: So etwas hätte sie noch nie erlebt. Herr Bierhaber
merkt, dass das Gespräch einen geschützten Raum braucht und lädt sie ein, die
Tür zum Flur zu schließen und Platz zu nehmen. Sie setzt sich und stellt sich
als Ingenieurin Schröder eines bekannten Architektenbüros vor. Sie habe bei
Frau Haase um ein dringendes Gespräch gebeten zu einem Bauvorhaben des
Architektenbüros. Herr Bierhaber unterbricht sie und erklärt, dass donnerstags
keine öffentlichen Sprechzeiten im Bauamt vorgesehen seien. Frau Schröder
nickt, doch bringt mit Schluchzen hervor: Aber ich muss mir doch nicht gefallen
lassen, dass mich Frau Haase mit dem Satz abfertigt: „Ich spreche nicht mit
Ihnen.“ Frau Haase habe ihr demonstrativ den Rücken zugewandt und gesagt:
„Raus!“
Frau
Schröder entschuldigt sich noch einmal für ihre desolate Verfassung. Sie sei
krank und habe Fieber, aber der Vorgang ihres Bauvorhabens sei so wichtig, dass
sie heute das Gespräch mit Frau Haase gebraucht hätte. Herr Bierhaber spürt,
dass er Frau Schröder nicht einfach wegschicken und ins Auto steigen lassen
kann. Er bietet ihr ein Glas Wasser an. Das Gespräch wird ruhiger. Er schlägt
ihr vor: „Ich reiche Ihre Beschwerde weiter, aber es müssen Ihre eigenen Worte
sein, Frau Schröder. Wenn Sie heute zu Hause sind, schreiben Sie mir irgendwann
im Verlauf des Tages eine Mail. Und ich lege sie dem Amtsleiter auf den Tisch.“
Frau Schröder gefällt der Vorschlag. Sie fühlt, dass sie nicht abgewimmelt
wird. Herr Bierhaber registriert, dass sie sich etwas beruhigt. Er kann sie zum
Parkplatz gehen lassen.
Zwei Tage
später übergibt er seinem Amtsleiter die Mail von Frau Schröder. Der Amtsleiter
schaut auf das Blatt, erkennt den Absender und sagt, ohne die Mail zu lesen:
„Soll sie sich beschweren. Mir auch egal!“ Herr Bierhaber vermutet im Stillen,
dass es wohl schon einige Ungereimtheiten im Bauplanungsvorhaben gegeben haben
müsse oder dass in Jahren zuvor das Architektenbüro ein unbequemer
Gesprächspartner gewesen war.
Einige Tage
verstreichen. Herr Bierhaber kommt etwas verspätet zu einem Geburtstagsfrühstück
im Amt, zu dem seine Kollegin Coletta Ansbach eingeladen hat. Alle seine
Kollegen und Kolleginnen einschließlich des Amtsleiters sind anwesend. Herr
Bierhaber bemerkt, dass eine komische Atmosphäre im Raum herrscht. Fast heiter
amüsieren sich die extrovertierten Kollegen und Kolleginnen (nur Frau Ansbach
und zwei weitere Kollegen sagen gar nichts). Herr Bierhaber nimmt nach ein paar
Sätzen den Namen Schröder auf, den Frau Haase nennt. Er weiß nun, dass es um
den Vorfall vor einigen Tagen geht. Ein Ingenieur ruft belustigt in Richtung
von Frau Haase, während er sich auf die Schenkel klopft: „Die hättest du mal
sehen sollen, als sie aus deinem Büro kam. Sie lehnte sich für einen Augenblick
an die Wand im Flur und sah aus, als würde sie zusammensacken.“ Dann fragt er
feixend seine Kollegin Haase: „Sag mal, was war das denn für ein Vogel?“ Herrn
Bierhaber geht die Häme zu weit und er mischt sich ein, indem er zu seinem
Ingenieurskollegen sagt: „Es ging Frau Schröder tatsächlich nicht gut. Aber das
ist doch kein Grund, sich über sie lustig zu machen. Sie hatte zum einen Fieber
und zum anderen hat sie sich schikaniert gefühlt.“ - Frau Haase schweigt. - Die
Atmosphäre im Raum ist wie ausgewechselt. Tastend ergibt sich ein Gespräch
darüber, wie man mit Bürgern umgeht. Herr Bierhaber bringt ein, dass er seinen
Dienst so versteht, bürgerfreundlich zu handeln. Ein Kollege hält ihm zurecht
entgegen, dass manche Ingenieure, die ihre Entwürfe zur Genehmigung
einreichten, keinen blassen Schimmer davon haben, was alles zu einer
Baugenehmigung gehöre. Herr Bierhaber lenkt ein und macht den Vorschlag, der
aber erst vier Jahre später von seiner Abteilungsleitung umgesetzt werden wird,
… er schlägt vor, dass man alle Entwurfsverfasser, also alle im Umfeld
bekannten Architekten, an einen Tisch holt und ihnen genaue Informationen an
die Hand gibt von Seiten der Bauaufsichtsbehörde, was bei einem Bauantrag
berücksichtigt werden muss.
Liebe
Gemeinde, ich nehme oft wahr, wie dienstbereit Christen im Beruf sind:
mitfühlend, helfend, manchmal auch – wenn es nottut - widersprechend, dem Rad
in die Speichen greifend. Menschen wie eben Herr Bierhaber, Kirchenvorsteher in
einer Umlandgemeinde von XY. Sie fallen angenehm auf durch eine andere innere
Formatierung im Heiligen Geist, durch eine wachsende Christusähnlichkeit, eine
Hingabebereitschaft, eine achtsame Barmherzigkeit. Jesus sagt in unserer
Predigtgeschichte: „Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): »Ich
habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit.“ Meine Erfahrung ist, dass es
tatsächlich um ein Lernen geht. Der Heilige Geist wirkt nicht in uns wie ein
zaubernder Magier, sondern er lässt sich ein auf unsere Reife und befruchtet
ein stückweises Erwachen, bestärkt ein tieferes Erkennen, welche menschliche
Haltung im Leben gefordert ist, welche Barmherzigkeit nottut. An uns ist es,
uns für das Erwachen zu öffnen: Also aus dem bedingungslosen Ja, das Gott zu
uns spricht, eine tiefe Barmherzigkeit freizusetzen. Eine mutige
Menschlichkeit. Das ist Nachfolge. Das ist eine bemerkens- und lebenswerte
Perspektive.
Matthäus,
der Zöllner, hatte diese Perspektive in Jesus entdeckt, als er aufstand und
Jesus folgte; als Matthäus erste Schritte tat im Lernprozess, auf Gottes Ja zu
vertrauen, um eine tiefe Barmherzigkeit freizusetzen.
Und wie
steht es um uns? Lassen wir uns vom Christus ansprechen und folgen ihm?
Auf einer
Skala zwischen 1 und 10 möge jede/r sich fragen: Wie weit fortgeschritten ist
unser Lernprozess für eine tiefe Barmherzigkeit? Amen