Predigt zur Vernissage Martin Bäuml "Abschürfungen" - Kreuzkirche Lüneburg

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Predigt zur Vernissage Martin Bäuml "Abschürfungen"

Gottesdienst
Liebe Gemeinde,

ich habe mich ja schon ein paar Tage länger als Sie mit den Photographien von Martin Bäuml befassen können. Und mein persönlicher Eindruck ist: Wenn ich die Photographien betrachte, dann nehme ich z.B. nicht nur Anteil an der Familiengeschichte von Herrn Bäuml, sondern meine eigene Familiengeschichte taucht auf: Erinnerungen an fröhliche Erlebnisse, auch an belastende Erfahrungen. Im Grunde werde ich durch die Photographien angeregt, auf mein ganzes Leben zurückzuschauen. Es wird Ihnen auch so gehen, vermute ich jedenfalls, wenn sie nachher die Fotografien betrachten: Rückschau auch auf Ihr eigenes Leben. Ferner meine ich, dass wir alle zu der Wahrnehmung gelangen: Unser Leben ist auch von Häutungen und Abschürfungen geprägt. Natürlich nicht nur, aber eben auch. Martin Bäuml hat seiner Ausstellung den Titel gegeben Abschürfungen. Was löst dieser Begriff bei uns aus?

In mir melden sich Erinnerungen an meine Kindheit aus der Zeit, als ich etwa 4 bis 6 Jahre alt war. Ich sehe mich im Sommer - bekleidet mit einer kurzen Lederhose und Hemd - spielen mit anderen Kindern. Wir laufen wild durcheinander, jagen uns und versuchen uns zu fangen. Wir lachen und freuen uns, Sonnenstrahlen kitzeln unsere Haut und wir sind begeistert, weil wir mit vielen anderen Kindern draußen spielen können. Ich höre noch heute meine Mutter sagen: nach Lachen kommt Weinen. Diese Weisheit ist nicht besonders erhebend, aber sie trifft natürlich manchmal zu. Und so war es dann hin und wieder: Ich lief mit voller Kraft hinter einem anderen Kind her und stürzte und schlug mir ein Knie oder beide Knie auf. Irgendwann heult man nicht mehr, weil man ein großes tapferes Kind sein will. Aber ich sehe mich noch in den Tagen danach mit Schorf auf den Knien herumlaufen. Oder es war mal nicht ganz so schlimm und die Haut auf den Knien war nur aufgeriebelt. So oder so: Es waren Abschürfungen. Nicht nur am Körper, sondern auch in der Seele und im Verstand. Nämlich körperlicher Schmerz und die Einsicht, es geht nicht alles gut. Es ist schmerzfreier, fröhliches Spielen mit etwas vorsichtigerem Verhalten zu verbinden.

Dieses Beispiel aus meiner Kindheit hat vielleicht in Ihnen erwachen lassen, welche Abschürfungen Ihre Kindheit, Ihre Jugend oder Ihr junges Erwachsenenleben geprägt haben. Vermutlich wird niemand sagen: Ich kenne keine Abschürfungen. Der Unterschied ist lediglich, wie groß sie sind oder wie tief sie gehen. Es ist eine normale Reaktion, dass wir sie ungern noch einmal anschauen, wenn Abschürfungen tief und groß sind. Und bei sehr tiefgehenden seelischen Verletzungen kann es geraten sein, sich therapeutische Hilfe zu holen, wenn man sie erinnert und noch einmal anschauen will.

Aber in jedem Fall lohnt es sich für uns, Abschürfungen nicht beiseite zu schieben, sondern immer wieder einmal ins Bild zu setzen... so wie Martin Bäuml es für sich getan hat und wie er uns nun präsentiert, was er ins Bild gesetzt hat mit seinen Photographien. Es lohnt sich, nicht beiseite zu schieben. Am Ende sind wir stärker, reifer, gesünder und heiler, kommunikativer, aufmerksamer, geschützter, freundlicher, liebesfähiger, wir sind einfach mehr wir selbst.

Im Übrigen kannte auch Jesus Abschürfungen. Jedes Mal, wenn wir ein paar Minuten in einem Evangelium lesen, können wir sie entdecken. Seine Abschürfungen waren z.B., dass das konservative Establishment seiner Zeit ihn als unbotmäßig und aufrührerisch empfand. Sie arbeiteten gegen ihn und dies wird ihn tief enttäuscht haben. Sie gewannen die Oberhand. Und dann lesen wir von seiner Verurteilung und dem Tod am Kreuz. Glücklicherweise aber auch von seiner Auferstehung. Und ich nehme diese Auferstehung einmal als Symbol für uns, dass auch die tiefste Abschürfung nicht das letzte Wort haben muss. Sofern wir uns stellen, wenn wir unsere Abschürfungen nicht ausblenden. Letztlich werden wir stärker, reifer, gesünder und heiler, kommunikativer, aufmerksamer, geschützter, freundlicher, liebesfähiger, und damit sind wir einfach mehr wir selbst.

Aus dieser Aufzählung greife ich den hoffnungsvollsten und bedeutungsvollsten Begriff auf: Für mich ist es das Wort liebesfähig. Dieses Wort umschreibt am treffendsten, was Jesus, den Christus, auszeichnete. Sein Herz war voller Liebe. Verschiedene Haltungen und Empfindungen veranschaulichen seine Liebe und machen seine Liebe aus: seine Güte und Freundlichkeit, Vertrauen und Hingabe, sich ganz und gar angenommen fühlen und bereit sein, Annahme zu verschenken, Einssein mit dem Moment und ganz lebendig mit den Sinnen wahrnehmen, Mitgefühl mit anderen und freundlich da sein für sich, vergeben und einen neuen Anfang gönnen, aber auch Eindeutigkeit und Klarheit in seinem Geist, was Gott von ihm wollte und womit er sowohl dem Mainstream seiner Gesellschaft entgegentrat als auch dem konservativen Establishment von Hohepriestern, Schriftgelehrten und führenden Pharisäern. Alles das gehörte zu seiner Liebe. Alles dies barg Jesus in seinem Herzen. Damit war er gewappnet gegen die Abschürfungen in seinem Leben, denen er nicht entgehen konnte.

Kommen wir zu uns: Woher können wir Liebe nehmen? Die Psychologie antwortet: Wir nehmen sie aus der bedingungslosen Annahme, die Mutter oder Vater oder beide uns entgegengebracht haben als Säugling und Kleinkind. Damit ist ganz Wesentliches gesagt. Aber was ist, wenn Mutter oder Vater zu dieser Liebe nicht fähig waren?

Ich glaube erstens, dass andere Menschen an die Stelle von Vater und Mutter treten können. Da ist z.B. die Oma oder der Opa. Sie lassen die Enkelin oder den Enkel erfahren: Du bist bedingungslos angenommen, du bist geliebt.
 
Ich denke zweitens an spätere Erfahrungen im Erwachsenenalter. Als ich mit 32 Jahren nach El Paso flog, um dort drei Jahre zu leben, war ich ein Fremder ohne Kontakte. Ich besuchte den Gottesdienst einer lutherischen amerikanischen Gemeinde. Ich erinnere es so frisch, als wäre es heute, dass ich um viertel vor zehn die Kirchentür öffnete und in einen Vorraum zur Kirche eintrat, in dem schon viele Menschen standen, Kaffee tranken und miteinander plauderten. Obwohl ich kaum Englisch sprechen konnte und damit geistig wie ein Kind unter ihnen war, fühlte ich mich herzlich in die Mitte genommen. Und so blieb es über die drei Jahre. Es war eine Atmosphäre von Liebe, die mich umgab und die ich in mich aufnahm. Und es entwickelten sich auch echte Freundschaften. Man darf bewerten, solche Erfahrung ist eine späte Aufnahme von Liebe ins eigene Leben.

Woher nehme ich Liebe? Ich meine drittens spirituelle Erfahrungen. Peter Lauster beschreibt in seinem Buch "aus ganzem Herzen leben" seine spirituellen Früherlebnisse (Seite 163): "Nachmittags saß ich also am Fluss und betrachtete die Wellen, die das Sonnenlicht reflektierten. Ich ließ meine Beine ins Wasser baumeln und fühlte an meinen Füßen das Vorbeifließen des Wassers. Meine Ohren lauschten auf den Wind, der sich im Rauschen der Blätter artikulierte, und ich fühlte den Wind auf der Haut meines Gesichts und auf meinen Händen. Alle meine Sinne öffneten sich, und ich war sensitiv vollkommen präsent. Alles Vergangene fiel von mir ab, und einen Gedanken an die Zukunft gab es nicht. Ich spürte nur das Jetzt." Er kommentiert sein Erlebnis folgendermaßen; "diese seelische Offenheit... war Lebendigkeit und Liebe." Als erwachsener Mensch und Psychologe kann Lauster deuten: "so war ich, in Meditation, liebend, sensitiv verbunden im Augenblick, und es gab keine störenden Gedanken. (Seite 164) Gegenwärtigsein setzt Lauster mit Lebendigkeit und Liebe gleich. Diese drei Worte sind für ihn austauschbar.

Die alten Lehrer und Lehrerinnen der Kirche, die als Mönche und Nonnen geschult waren, nicht durchs Leben zu hasten, sondern von Moment zu Moment gegenwärtig zu sein, kannten diese Erfahrung auch schon, von der Lauster spricht. Ganz da sein, präsent sein und sich Gottes Liebe hinhalten. Und sie berichten davon, dass ihr Herz der Ort ist, wo Gott mit seiner Liebe einzieht. Sie haben sich im Herzen mit ihm verbunden gefühlt, haben gespürt, von Gott geliebt und angenommen zu sein. Manche sprechen nicht vom Herzen, sondern dass tief in ihnen ein Raum sei, auf den niemand von außen einwirken kann außer Gott, der dort mit seiner Liebe wohnt.

Ich war erstaunt, dass dieser Gedanke und diese Erfahrung in unserer modernen Zeit nicht verloren gegangen ist. Michael Jackson singt in seinem Lied Heal the world, dass im Herzen ein Ort ist und dass an diesem Ort Liebe ist. Natürlich kann dies auch nur romantische Sprache sein. Aber eventuell weiß Michael Jackson mehr über spirituelle Wahrheit. There's a place in your heart and I know that it is love. Vielleicht ist es gar nicht so wichtig, ob Michael Jackson romantische oder spirituelle Ansichten vertritt. Wir können ja auch einfach sagen: Gott wohnt mit seiner Liebe in uns. Und wir lassen aus, ob es einen besonderen Ort gibt in uns oder nicht. Entscheidend ist das Gefühl, von Gott geliebt zu sein. Erstens kann uns diese Liebe tragen, wenn wir Abschürfungen erleiden. So wie sie Jesus getragen hat. Zweitens können wir diese Liebe fließen lassen, dass sie nicht nur in uns bleibt, sondern andere Menschen erreicht, alle Lebewesen, letztlich die ganze Schöpfung.
 
Michael Jackson traut uns zu, dass wir die Welt mit ihren Abschürfungen heilen können. Liebe ist stark, singt er. Liebe kümmert sich nur um fröhliches Geben. Wenn wir es versuchen, werden wir es sehen. In dieser Seligkeit können wir gar nicht Furcht oder Angst fühlen. Wir hören auf, nur zu existieren und beginnen zu leben.  Ich freue mich, dass Michael Jackson Menschen mit dieser schönen Vision beglückt. Wir brauchen Visionen, kleine und große, gegen die Abschürfungen in dieser Welt, gegen die Verletzungen in unserem Alltag. Auch wenn wir wissen, dass wir die Welt nicht heilen oder retten werden. Aber es gibt keinen anderen Ansatz, als ihn Jesus aufgezeigt hat oder andere Lehrer, die Weise waren, bis hin zu Künstlern wie Ihnen, lieber Herr Bäuml, und Musikern: Es ist die Liebe und nicht die Gleichgültigkeit oder der Hass, die Abschürfungen heilt und das Leben zum Besseren wandelt. Weltlich gesprochen: Es ist der Ruf des Lebens an uns, an die Stelle von Gleichgültigkeit oder Hass Liebe zu setzen. Religiös spirituell gesprochen: Es ist Gottes Ruf an uns, gegen Abschürfungen heilende Liebe zu setzen. Hören wir diesen Ruf und üben wir ein im täglichen Leben, wie wir aus einer liebenden Haltung heraus denken, sprechen und handeln können.
 
Es hängt viel für uns daran, diesen Ruf zu hören, aufzugreifen und vor allem auch einzuüben. Die geistige Zustimmung allein, so schön wir sie selbst vielleicht finden und so sehr wir davon aufrichtig überzeugt sind, aus einer liebenden Haltung heraus zu denken, zu sprechen und zu handeln,... geistige Zustimmung allein bleibt oft unverbindlich. Heilende Liebe für mich selbst einzuüben, kann in der Umsetzung bedeuten: Ich nehme mir z.B. vor, einen persönlichen Traum ernst zu nehmen und zu verwirklichen. Vielleicht meint dies, dass ich nicht 90 Euro ausgebe für die soundsovielte Jeansjacke, wenn mein Traum wäre, einmal im Leben London zu sehen. Stattdessen investiere ich die 90 Euro für einen Englischkurs bei der VHS.
 
Heilende Liebe anderen zu schenken, heißt beim Einüben vielleicht: Wenn ein Kollege oder eine Kollegin oder ein Nachbar mir etwas auf den Stock tut, dann revanchiere ich mich nicht. Stattdessen behalte ich eine faire und aufmerksame innere Grundhaltung ihm oder ihr gegenüber. Probieren Sie dies einmal aus. Es ist nämlich leichter gesagt als getan. Das empfinde ich selbst so. Aber Einübung nimmt uns einen oder mehrere Schritte weiter über die allein geistige Zustimmung zur Liebe hinaus. So kann uns Liebe immer mehr erfüllen, dass sie sowohl jede und jeden Einzelnen von uns trägt als auch andere Menschen erreicht, alle Lebewesen, letztlich die ganze Schöpfung. Und hier schließt sich ein Kreis: Wir selbst werden dabei stärker, reifer, gesünder und heiler, kommunikativer, aufmerksamer, geschützter, freundlicher, und damit sind wir einfach mehr wir selbst. Amen

B. Skowron
 
 
 
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