Predigt - Kreuzkirche Lüneburg

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Predigt

Gottesdienst
Estomihi, 03.03.2019
 
Matthäus 9, 9 Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.
10 Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. 11 Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? 12 Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.
13 Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.« Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.
Liebe Gemeinde,
 
warum steht der Zöllner Matthäus auf und folgt Jesus? So mir nichts dir nichts, wie wir im Volksmund sagen. Man wirft doch nicht so einfach die Brocken hin!
 
Wir erfahren nichts über die Beweggründe des Zöllners. Der Evangelist berichtet nur knapp und faktisch. Aber wir dürfen sicher sein: Auch damals – zur Zeit Jesu – … haben Menschen nicht unüberlegt gehandelt. Ich vermute, dass der Zollpächter Matthäus gemerkt hat, dass Jesus ihm etwas bieten konnte, eine Perspektive fürs Leben, die Matthäus schon lange erhofft und gesucht hatte.
 
Verstehen wir zunächst kurz die Situation damals und kommen dann zu unserer Lebenswelt heute. Matthäus' Leben war vielleicht materiell abgesichert. Aber nicht jeder Zollpächter war reich. Es ist auch denkbar, dass er nur so gerade über die Runden kam. Ein Zöllner pachtete von der Besatzungsmacht seine Zollstation, also von den Römern. Er durfte dann seine Zollgebühr für Waren erheben, die in seinen Zollbezirk eingeführt oder ausgeführt wurden oder die seinen Bezirk auf der Durchreise passierten. Er hatte dann einen festen Anteil seiner Gebühren an die Römer zu entrichten. Nur der Rest war sein eigener Gewinn.
Jeder Zöllner musste damals in Palästina damit leben, dass ihn die jüdische Bevölkerung verachtete, weil er ein Profiteur am System war. Er profitierte von der Unterdrückungsherrschaft der heidnischen römischen Besatzer. Im Grunde beurteilte man die Zöllner als Feinde; als Feinde der jüdischen Religion und der jüdischen Nation.
 
Wir können uns vorstellen mit diesem Hintergrundwissen über Zollpächter im römischen Palästina, dass der Zöllner Matthäus nicht ohne Grund seine Zollstation aufgegeben hat und Jesus folgte. Wenn Jesus ihn ansprach, weil er in ihm keinen Feind sah, und wenn er ihn sogar aufforderte, ein Mitglied seiner Nachfolgegemeinschaft, seiner Jüngerschaft, zu werden, dann hieß das für Matthäus: Jesus warf ihm nicht vor, Zöllner geworden zu sein. Matthäus wird begriffen haben: In Jesus begegnete ihm ein Jude, der verstand, in welcher Zwickmühle er sich befand, nämlich einerseits Geld verdienen zu müssen und andererseits etwas zu tun, was nicht koscher war und was ihn selbst, Matthäus, vermutlich bedrückte in seinem Gewissen. Jesus wird erkannt haben, dass Matthäus als Zöllner von früh bis spät Dinge tat, die für ihn persönlich keinen Sinn ergaben … außer dass er Geld verdiente. Jesus bot ihm die Chance, eine neue Lebensperspektive aufzugreifen.
 
So viel zum Zöllner Matthäus, liebe Gemeinde.
Nun zu uns. Könnten wir uns mit ihm identifizieren? Uns selbst in gewisser Weise als Zöllner verstehen? Natürlich nur symbolisch! Denn wir leben ja in einer anderen geschichtlichen Situation. Wir müssen uns mit keiner Fremdherrschaft arrangieren. Aber wir haben auch wie Matthäus einmal eine berufliche Laufbahn eingeschlagen und sind in ihr bestimmten Zwängen ausgesetzt. Oder sofern Sie bereits Rentner sind, können Sie zurückschauen auf die Umstände Ihrer Arbeit und was man von Ihnen vor einigen Jahren erwartete. Vielleicht gab, vielleicht gibt es in unseren Berufen eine Menge Erwartungen, dass wir Aufgaben erledigen sollen, die wir gar nicht tun möchten. Aber wir erledigen diese Aufgaben, weil wir Geld verdienen wollen. Oder wir tun Dinge, die wir sterbenslangweilig finden. Oder wir erleben, dass wir stundenlang fleißig sind, aber unsere Tätigkeit steht gar nicht mit unserem Leben in Verbindung oder nährt nicht unsere seelischen Bedürfnisse. Vielleicht ahnen wir, dass es – zumindest punktuell - eine Fremdherrschaft zu geben scheint, obwohl wir in einem freien Land leben. Die Überfremdung könnte sein, dass unsere Zielvorgaben im Beruf sind, dass wir lediglich mehr schaffen und mehr Gewinn erzielen müssen, ohne darauf schauen zu dürfen, ob wir jemandem damit helfen oder schaden. Denken Sie beispielsweise an die Verkaufsgespräche bei Banken und Versicherungen, als unseriöse Wertanlagen verkauft wurden. Aber es gibt auch viel unspektakulärere Anforderungen an Arbeitnehmer, die losgelöst sind von dem Ziel, jemandem zu helfen. Ein Klempner soll Kunden von der Anschaffung einer teuren Mischbatterie überzeugen oder ein Beamter in einer kommunalen Verwaltung soll zwar legale, aber überholte Verwaltungsrichtlinien gegenüber Bürgern durchsetzen. Solche Überfremdungen sind keine Erfindungen, sondern Wirklichkeit im Berufsalltag unserer Gesellschaft.
 
Mit unserer Predigtgeschichte dürfen wir sagen: Jesus lädt z.B. den Bankangestellten, lädt den Klempner, lädt den Beamten an seinen Tisch. Er fragt nicht nach moralischer Eignung. Er klopft uns nicht darauf ab, ob wir eine saubere Weste haben oder nicht. Gemeint ist, ob die Weste unter unserer bürgerlichen Anständigkeit auch wirklich sauber ist. Seine Rede lautet nicht: Du müsstest oder solltest eigentlich vorher noch …! Sondern Jesus weiß, dass wir Erdenbürger unser Leben nur neu ordnen können, wenn wir Verständnis erfahren; ... Verständnis erfahren für die Hintergründe, aus denen heraus wir geworden sind, wie wir sind. Es ist eine grenzenlose Güte, die Jesus an den Tag legte. Im Auftrag Gottes. Es ist ein barmherziges Verständnis, das der Christus heute noch aufbringt. Im Namen Gottes. Christus ist Partner für Menschen, deren Leben hinter der bürgerlichen Fassade keine perfekte Bilanz aufweist oder die nicht stark genug sind, ihre Überheblichkeit selbst zu wandeln.
 
Warum ist Christus dieser Partner, dieser Anwalt göttlich grenzenloser Güte? Jesus würde heute noch auf diese Frage antworten: „Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.“
 
Diese freundliche Ausrichtung auf Menschen, deren Leben aus unterschiedlichen Gründen zum Teil oder ganz aus dem Ruder läuft, … diese Ausrichtung Jesu hat provoziert; hat Pharisäer verärgert. Sie provoziert auch heute noch. Denken Sie etwa an Dieter Hoeness, der Millionen von Euro an deutschen Finanzämtern vorbei eingesackt hat, oder nehmen Sie das Beispiel mit den Bankangestellten, die unseriöse Wertpapiere verkauft haben: Stellen Sie sich vor, die säßen bei Jesus am Tisch oder gingen bei ihm ein und aus. Oder sie würden bei unserem Bischof zu einem Empfang eingeladen. Dann würde es laute und massive Proteste hageln.
 
Gegen diese Proteste spricht Gottes bedingungslose Güte. Paulus schreibt im Römerbrief, Kapitel 2 (ich lese die Gute-Nachricht-Übersetzung)Seht ihr nicht, dass Gott euch durch seine Güte zur Umkehr bewegen will? (V. 4) Gott sagt bedingungslos Ja zu uns Menschen, aber er lässt uns nicht so, wie wir sind. Er schenkt uns eine andere Lebensperspektive. Es ist eine andere innere Formatierung durch den Heiligen Geist, eine wachsende Christusähnlichkeit, eine Hingabebereitschaft, eine achtsame Barmherzigkeit.
 
Ich bin immer wieder erstaunt über diese andere Formatierung im Heiligen Geist. Ich nehme oft wahr, wie dienstbereit Christen im Beruf sind: mitfühlend, helfend, manchmal auch – wenn es Not tut - widersprechend, dem Rad in die Speichen greifend. Ich möchte Ihnen ein beeindruckendes Verhalten von achtsamer Barmherzigkeit erzählen, das mir ein Diakonenkollege aus Niedersachsen berichtete. Es geht um einen Beamten im mittleren Dienst eines Bauamtes. Näher darf ich Behörde und Örtlichkeit nicht beschreiben, damit die handelnden Personen anonym bleiben können. Alles ist exakt so passiert, wie ich es jetzt gleich schildere. Bitte achten Sie auch auf krasse Verhaltensweisen, die scheinbar normale Gewohnheiten darstellen.
 
Der Beamte ist Kirchenvorsteher in der Gemeinde meines Diakonenkollegen. Ich nenne ihn für unseren Zweck heute Morgen Herrn Bierhaber. Er bearbeitet im Bauwesen ein bestimmtes Sachgebiet. Er sitzt allein in seinem Büro wie auch seine Kollegin Haase, von der im Weiteren die Rede sein wird. Alle Namen sind in diesem Bericht verändert.
 
In das Büro von Herrn Bierhaber tritt eine Frau, die außer sich ist und nach dem Namen des Amtsleiters fragt. Sie weint und wirkt fahrig. Entschuldigt sich. Herr Bierhaber fragt, ob er helfen könne. Der Amtsleiter sei für zwei Tage auf einer Fortbildung für alle leitenden Beamten Niedersachsens. Die Frau bringt aufgeregt den Satz hervor: So etwas hätte sie noch nie erlebt. Herr Bierhaber merkt, dass das Gespräch einen geschützten Raum braucht und lädt sie ein, die Tür zum Flur zu schließen und Platz zu nehmen. Sie setzt sich und stellt sich als Ingenieurin Schröder eines bekannten Architektenbüros vor. Sie habe bei Frau Haase um ein dringendes Gespräch gebeten zu einem Bauvorhaben des Architektenbüros. Herr Bierhaber unterbricht sie und erklärt, dass donnerstags keine öffentlichen Sprechzeiten im Bauamt vorgesehen seien. Frau Schröder nickt, doch bringt mit Schluchzen hervor: Aber ich muss mir doch nicht gefallen lassen, dass mich Frau Haase mit dem Satz abfertigt: „Ich spreche nicht mit Ihnen.“ Frau Haase habe ihr demonstrativ den Rücken zugewandt und gesagt: „Raus!“
 
Frau Schröder entschuldigt sich noch einmal für ihre desolate Verfassung. Sie sei krank und habe Fieber, aber der Vorgang ihres Bauvorhabens sei so wichtig, dass sie heute das Gespräch mit Frau Haase gebraucht hätte. Herr Bierhaber spürt, dass er Frau Schröder nicht einfach wegschicken und ins Auto steigen lassen kann. Er bietet ihr ein Glas Wasser an. Das Gespräch wird ruhiger. Er schlägt ihr vor: „Ich reiche Ihre Beschwerde weiter, aber es müssen Ihre eigenen Worte sein, Frau Schröder. Wenn Sie heute zu Hause sind, schreiben Sie mir irgendwann im Verlauf des Tages eine Mail. Und ich lege sie dem Amtsleiter auf den Tisch.“ Frau Schröder gefällt der Vorschlag. Sie fühlt, dass sie nicht abgewimmelt wird. Herr Bierhaber registriert, dass sie sich etwas beruhigt. Er kann sie zum Parkplatz gehen lassen.
 
Zwei Tage später übergibt er seinem Amtsleiter die Mail von Frau Schröder. Der Amtsleiter schaut auf das Blatt, erkennt den Absender und sagt, ohne die Mail zu lesen: „Soll sie sich beschweren. Mir auch egal!“ Herr Bierhaber vermutet im Stillen, dass es wohl schon einige Ungereimtheiten im Bauplanungsvorhaben gegeben haben müsse oder dass in Jahren zuvor das Architektenbüro ein unbequemer Gesprächspartner gewesen war.
 
Einige Tage verstreichen. Herr Bierhaber kommt etwas verspätet zu einem Geburtstagsfrühstück im Amt, zu dem seine Kollegin Coletta Ansbach eingeladen hat. Alle seine Kollegen und Kolleginnen einschließlich des Amtsleiters sind anwesend. Herr Bierhaber bemerkt, dass eine komische Atmosphäre im Raum herrscht. Fast heiter amüsieren sich die extrovertierten Kollegen und Kolleginnen (nur Frau Ansbach und zwei weitere Kollegen sagen gar nichts). Herr Bierhaber nimmt nach ein paar Sätzen den Namen Schröder auf, den Frau Haase nennt. Er weiß nun, dass es um den Vorfall vor einigen Tagen geht. Ein Ingenieur ruft belustigt in Richtung von Frau Haase, während er sich auf die Schenkel klopft: „Die hättest du mal sehen sollen, als sie aus deinem Büro kam. Sie lehnte sich für einen Augenblick an die Wand im Flur und sah aus, als würde sie zusammensacken.“ Dann fragt er feixend seine Kollegin Haase: „Sag mal, was war das denn für ein Vogel?“ Herrn Bierhaber geht die Häme zu weit und er mischt sich ein, indem er zu seinem Ingenieurskollegen sagt: „Es ging Frau Schröder tatsächlich nicht gut. Aber das ist doch kein Grund, sich über sie lustig zu machen. Sie hatte zum einen Fieber und zum anderen hat sie sich schikaniert gefühlt.“ - Frau Haase schweigt. - Die Atmosphäre im Raum ist wie ausgewechselt. Tastend ergibt sich ein Gespräch darüber, wie man mit Bürgern umgeht. Herr Bierhaber bringt ein, dass er seinen Dienst so versteht, bürgerfreundlich zu handeln. Ein Kollege hält ihm zurecht entgegen, dass manche Ingenieure, die ihre Entwürfe zur Genehmigung einreichten, keinen blassen Schimmer davon haben, was alles zu einer Baugenehmigung gehöre. Herr Bierhaber lenkt ein und macht den Vorschlag, der aber erst vier Jahre später von seiner Abteilungsleitung umgesetzt werden wird, … er schlägt vor, dass man alle Entwurfsverfasser, also alle im Umfeld bekannten Architekten, an einen Tisch holt und ihnen genaue Informationen an die Hand gibt von Seiten der Bauaufsichtsbehörde, was bei einem Bauantrag berücksichtigt werden muss.
 
Liebe Gemeinde, ich nehme oft wahr, wie dienstbereit Christen im Beruf sind: mitfühlend, helfend, manchmal auch – wenn es nottut - widersprechend, dem Rad in die Speichen greifend. Menschen wie eben Herr Bierhaber, Kirchenvorsteher in einer Umlandgemeinde von XY. Sie fallen angenehm auf durch eine andere innere Formatierung im Heiligen Geist, durch eine wachsende Christusähnlichkeit, eine Hingabebereitschaft, eine achtsame Barmherzigkeit. Jesus sagt in unserer Predigtgeschichte: „Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit.“ Meine Erfahrung ist, dass es tatsächlich um ein Lernen geht. Der Heilige Geist wirkt nicht in uns wie ein zaubernder Magier, sondern er lässt sich ein auf unsere Reife und befruchtet ein stückweises Erwachen, bestärkt ein tieferes Erkennen, welche menschliche Haltung im Leben gefordert ist, welche Barmherzigkeit nottut. An uns ist es, uns für das Erwachen zu öffnen: Also aus dem bedingungslosen Ja, das Gott zu uns spricht, eine tiefe Barmherzigkeit freizusetzen. Eine mutige Menschlichkeit. Das ist Nachfolge. Das ist eine bemerkens- und lebenswerte Perspektive.
 
Matthäus, der Zöllner, hatte diese Perspektive in Jesus entdeckt, als er aufstand und Jesus folgte; als Matthäus erste Schritte tat im Lernprozess, auf Gottes Ja zu vertrauen, um eine tiefe Barmherzigkeit freizusetzen.
 
Und wie steht es um uns? Lassen wir uns vom Christus ansprechen und folgen ihm?
Auf einer Skala zwischen 1 und 10 möge jede/r sich fragen: Wie weit fortgeschritten ist unser Lernprozess für eine tiefe Barmherzigkeit? Amen
 
 
 
 
 
 
 
 
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